Keine Zeit! – Ein Mantra für die eigene Wichtigkeit?
Juni 2024
Lesezeit: 5 Min
Was man nicht alles machen wollte oder möchte und keine Zeit findet
Regelmäßig Sport, sich um einen neuen Job umsehen, mehr Zeit mit Freunden und Familie verbringen – aber wir hören es überall: „Ich habe keine Zeit“!
Ein Termin jagt den anderen, die Terminsuche gestaltet sich schwierig bis unmöglich: „In drei Wochen, da hätte ich ein kleines Loch, aber da müsste ich noch etwas ausräumen“, so der Tenor. Das Hamsterrad dreht sich, auch in der Freizeit. Muss das so sein? Ist das „normal“? Ist das gesund? Sieht so ein gutes Leben aus?
Keine Zeit! – Muss das so sein?
Aus eigener Erfahrung: Nein! Ich kenne das Hamsterrad nur allzu gut, kenne die Auswirkungen auf Körper, Geist und Seele. Ich kenne mit meinen mehr als 45 Jahren Berufserfahrung noch Zeiten als es Zeit für Gespräche, Zeit zum Philosophieren, Zeit füreinander und Muse gab.
Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert. Sie ist schneller, intensiver und ablenkender geworden. Viele Zeiträuber haben Einzug gehalten, denen wir scheinbar hilflos ausgeliefert scheinen. Smartphone, Tablet, Notebook und PC geben uns die Möglichkeit „always on“ zu sein. Ständig poppen Nachrichten und E-Mails auf. Informationen aus den Social-Media-Kanälen prasseln auf uns ein und finden ihren Weg in unser Gehirn, nehmen Einfluss auf unser Wissen, unsere Gefühle und Emotionen. Die Finger tippen und swypen fast schon automatisch, um ja nichts zu versäumen. Am Ende des Tages fragen wir uns, falls wir dazu überhaupt noch in der Lage sind: „Wo ist der heutige Tag geblieben?“ „Was haben wir eigentlich gemacht?“ „War das, womit wir unsere Zeit verbracht haben, zielführend und erfüllend?“
Wir haben ständig das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen und mit der überbordenden Fülle an Aufgaben überfordert zu sein, kein Ende zu finden. Wir verfangen uns in unendlichen Routinen und Gewohnheiten und leiden darunter, keine Zeit für uns zu finden, nicht zur Ruhe zu kommen.
Woher kommt es „keine Zeit“ zu haben?
Professorin Dorie Clark (University of Durham in North Carolina) fand in ihren Untersuchungen heraus, dass wir „Entscheidungen treffen, die uns ständig beschäftigt halten, obwohl wir selbst sagen, dass wir das gar nicht wollen. Sie stellte fest, dass es drei Ursachen gibt, warum das so ist, und warum es uns so schwerfällt, aus diesem Kreislauf der Überlastung auszubrechen:
- Wir glauben, nie Zeit zu haben, mache uns wichtiger
Laut Clark ist es für viele Menschen ein Statussymbol, wenig oder keine Zeit zu haben. Eine Studie der Columbia University aus 2016 unterstützt diese Theorie. Menschen mit einem vollen Terminkalender schreiben sich einen höheren Status und ein erstrebenswerteres Image zu. Dies war im 19. Jahrhundert noch völlig anders. Damals galt: Nicht arbeiten müssen, ist schick!
„Ich habe keine Zeit“ bedeutet heute: „Ich bin so wichtig, so gefragt“, dies erhöht das Ego und unseren Selbstwert, auch wenn wir nicht unbedingt Sinnvolles machen, sondern damit zu einem guten Teil nur Zeit verschwenden, die uns für unser Leben und unsere Kreativität fehlt. Aber: Wer will sich schon unnütz fühlen?
Übrigens: in anderen Ländern und Kulturen sieht man das anders. So sind in Italien ständige Beschäftigung und Status nicht so eng miteinander verknüpft. In vielen anderen Ländern und Kulturen gibt es diesbezüglich überhaupt keine Koppelung von viel Arbeiten und Status. - Die Angst vor dem Unbekannten führt zur Beschäftigung mit Bekanntem
Wir vermeiden daher gerne unbekannte Aufgaben und Risiken und widmen uns lieber Dingen, die wir kennen und besser einschätzen können.
Stellt sich nun eine unbekannte Herausforderung, bei der man nicht weiß, wie man anfangen soll und der Ausgang ungewiss ist, so ist es verlockend, zuerst irgendwelche E-Mails zu beantworten oder in Gespräche und Besprechungen zu gehen, die uns davon ablenken, das neue Thema anzugehen. Wir halten uns mit Aufgaben busy, die uns trotzdem das Gefühl geben, wichtig zu sein und Sinnvolles zu erledigen.
Somit wäre dann der Beweis erbracht, dass wir wichtig, unabkömmlich und „leider nicht dazu gekommen sind“. Der Selbstbetrug feiert fröhliche Urständ!
Auf die Spitze getrieben, sehen wir dieses Verhalten dann, wenn es um Fragen existenzieller Natur geht. Wer stellt sich schon gerne den eigenen Schwächen? Wer holt sich schon gerne selbst vom Thron des „alles-immer-sowieso Superleistungs-Hero oder der Heroin?“ Wer stellt sich schon gerne Fragen wie: „Ist der Beruf der richtige für mich?“, oder: „Bin ich in meinem Job, meiner Beziehung, meinem Leben wirklich glücklich?“ Clark meint: „Wir halten uns beschäftigt, um diese Fragen gar nicht erst beantworten zu müssen.“ - Wir halten uns busy, damit wir nicht hinsehen müssen
Das Verdrängen von wichtigen Aufgaben, Gefühlen und Emotionen ermöglicht es uns, nicht auf uns selbst hinsehen zu müssen und in Selbstreflexion zu gehen. Damit kann ein sich „dem Unbekannten-Stellen“, vor seinen eigenen Gefühlen und Emotionen vermieden werden. Langfristig stellen sich möglicherweise Krankheiten, Depressionen, Hilflosigkeit oder das Gefühl ein, ausgebrannt zu sein. Weil wir nicht rechtzeitig hinsehen wollen, landen wir möglicherweise bei den unschönen Konsequenzen unseres Handelns. An diesem Punkt sind wir dann gezwungen, uns mit unserem Selbst auseinanderzusetzen, unsere Haltungen und Handlungen zu überdenken, um zu einer Neuorientierung zu gelangen. Doch müssen wir erst krank werden, um die richtigen Schritte zu tun? - Wie komme ich aus dem „Keine-Zeit-Hamsterrad“ heraus?
Wer ist verantwortlich für dieses Phänomen? Es ist nicht leicht, dies anzuerkennen, aber: Es ist und bleibt die eigene Entscheidung! Diese lässt sich auf nichts und niemanden abwälzen. Da bleibt nur, sich selbst an der Nase zu fassen und genau hinzusehen, welche Ängste, Vorstellungen, Muster, Prägungen und Gewohnheiten dazu führen, dass wir uns selbst nicht aus dem Dilemma entlassen.
Sind es verdrängte Gefühle? Vorstellungen davon, etwas oder wer sein zu müssen? Ist es die Angst davor zu scheitern oder etwas nicht bewältigen zu können? Oder die Angst nicht anerkannt zu werden oder nicht mehr gebraucht zu werden? Die Befürchtung nicht wichtig oder wichtig genug zu sein?
Letztlich müssen „wir einfach hinsehen und hinterfragen, was uns wirklich motiviert, um eine andere Entscheidung zu treffen“ rät Clark. Es geht darum, sich Zeit und Raum zum Durchatmen zu nehmen und darüber nachzudenken und nachzufühlen, ob unsere Vorgangsweise guttut, ob sie wirklich notwendig ist und welchen eigenen Vorstellungen, Prägungen und Mustern wir folgen.
Alles im Leben ist eine Entscheidung. Wir haben die Wahl. Die wirkliche Freiheit liegt darin, selbst für sich, seine Gesundheit, seinen Beruf und sein Privatleben gute und gesunde Entscheidungen zu treffen.
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